Die moderne Medizin ist in vielerlei Hinsicht ein grosses Geschenk. Von der ersten Entwicklung keimfreier Wundverbände 1874, zu sich selbstauflösenden Stents 2012 bis hin zur ersten erfolgreichen Trennung am Kopf zusamengewachsener siamesischer Zwillinge 2022, bei der erstmal beide überlebten. Das rasante Fortschreiten medizinischer Fähigkeiten ermöglicht es uns mittlerweile unzählige Leben zu retten, die am seidenen Faden hängen.
Gleichzeitig werden wir immer kränker. Gleichzeitig wird unsere Seele immer ärmer. Gleichzeitig verlernen wir immer mehr an uns zu glauben, unserem Körper zu vertrauen und unsere Selbstheilungskräfte wahrzunehmen. Wir verlernen immer mehr, selbst die Verantwortung für unsere Gesundheit zu übernehmen und eigenständig zu handeln. Therapieregime nach Leitfäden mit 5 Minuten Gesprächszeit haben uns unserer Intuition beraubt und unsere Selbstermächtigung im Keim erstickt.
So erlebe ich viele Patienten in der Praxis voller Angst davor, zum Arzt zu gehen, aus Sorge in irgendwelche Therapieregime gepresst zu werden, nicht ernst genommen zu werden, nicht verstanden und nicht wahrgenommen zu werden. Traumatisierende Begegnungen, Rüge und Angst-Macherei vergiften eine der wichtigsten Beziehungen in einer immer kränker werdenden Gesellschaft – die Beziehung zwischen einem Patienten, der sich vertrauensvoll und hilfesuchend an einen medizinischen Begleiter wendet. Wir Therapeuten sollten uns als zugewandte Begleiter verstehen, die Wege der Heilung zeigen und mit offenem Blick aufklären. Wir sollten Wissen und Erfahrungen teilen, unsere Hand reichen, wenn sie gebraucht wird und unsere Worte stets mit Mut und Zuversicht füllen.
Wie oft habe ich schon von meinen Patienten lernen dürfen. Jede Seele, die durch meine Türe tritt, lässt meinen Blick wieder weiter werden. Mit jedem Heilungsweg übe ich mich wieder in Demut, wie einzigartig und individuell unser Körper auf Impulse reagiert. Es gibt kein Patentrezept – es gibt keinen Plan, der immer funktioniert und wer auch immer das Gegenteil behauptet, hat verlernt zuzuhören.
Also steht für eure Bedürfnisse ein. Lasst euch nicht verunsichern von Aussagen, die euch in eine Ecke drängen wollen, die euch Angst machen und euch Handlungsspielraum nehmen. Es ist euer Körper, euer Leben, es ist euer Weg und auch eure Verantwortung. Wir klären auf, wir reichen die Hand – ihr entscheidet.
Und vergesst nie: Ihr seid so viel mehr, als eine Diagnose. Ihr seid so viel mehr, als Zahlen auf einem Befund. Ihr seid so viel mächtiger, als man euch zugestehen will.